"Simonyi - Papierskulpturen · Papírszobrok · Paper sculptures · Plastiche in carta",
Katalog, Kunstverein Rosenheim - Budapest Galerie, 2000

Freundliche Riesen

Schon seit grauer Vorzeit beschäftigen Riesen die Phantasie der Menschen, fanden sich doch allenthalben Bauwerke von solchen Ausmaßen, wie sie bloße Menschenkraft nie hätte auftürmen können. Wer hat die fünf Meter hohen Köpfe auf den Osterinseln gestaltet und zu welchem Zweck? Wer hat Stonehenge gebaut, und wer die wuchtigen Steine der Dolmen aufgeschichtet? Letztere erklärten sich die Bewohner des alten Israel mit der Existenz von Riesen, Im ersten Buch Mose im 6. Kapitel wird berichtet, dass sich die "Gottessöhne" in die irdischen Schönen so verguckt hatten, dass sie mit ihnen Kinder zeugten. Als Halbgötter mussten diese die normalen Erdbewohner irgendwie überragen und taten das in der Vorstellung der Menschen eben durch ihre Größe. Die gewaltigen Kräfte des Herakles wurden in der antiken Mythologie nicht anders erklärt, galt er doch als Sohn von Zeus und Alkmene. Die unehelichen Kinder von Zeus hatten es trotz ihres Status als Halbgötter im Leben besonders schwer. Anders als "die Helden der Vorzeit", wie die Riesen im ersten Buch Mose genannt werden, konnten sie die Privilegien ihrer herrschaftlichen Verwandtschaft nur selten genießen, weil sie von Hera als lebendiger Beweis für Zeus Untreue unerbittlich verfolgt wurden.

Riesen mussten im Gegensatz zu den Zwergen ihre Gutmütigkeit immer erst unter Beweis stellen. So wechselte Rübezahl je nach den Eigenschaften, die ihm in der Vorstellung der Menschen verliehen wurden, zwischen Berggeist, Mönch, Zwerg und Riese. Heutzutage spielen wohl weder Zwerge noch Riesen als dämonische Kräfte eine Rolle, auch wenn man sich aus ganz praktischen Überlegungen heraus so manchmal einen Riesen wünschte, der einem mit seinen herkulischen Kräften zu Diensten wäre. Auch die fleißigen Heinzelmännchen sind nicht zu verachten! Ein kleines Restgeheimnis bleibt trotz aller Aufklärung um diese seltsamen Wesen. Weder Orte wie Stonehenge noch Figuren, wie sie auf den Osterinseln zu finden sind, lassen sich vollständig erklären. Diese Lücke zwischen Vernunft und Wirklichkeit ist das Spielfeld der Kunst. Nur hier kann zwei und zwei auch einmal unendlich ergeben.

Emö Simonyi will mit ihren Skulpturen aus Pappe nicht die Dämonen früherer Zeiten auferwecken. Dafür sind ihre Riesen und Riesinnen trotz ihrer bedrängenden körperlichen Präsenz viel zu liebenswürdig. Aber dennoch spielt sie mit unseren Assoziationen, Erinnerungen und vielleicht auch Urängsten. Alles, was wir bewusst oder unbewusst über das rätselhafte Geschlecht der Riesen gespeichert haben, hat im Umgang mit den Pappfiguren von Simonyi Bedeutung. Die schattigen Abgründe menschlicher Existenz haben sie schon immer interessiert. Die "Schimären" und "Feuergötter" in ihren früheren Bildern tanzen ebenso wie "Das ungleiche Paar" einen "danse macabre". Ihre Art zu  malen hatte zu jener Zeit fast etwas Gewalttätiges. Geprägt von starken Farbkontrasten glichen ihre nervösen und heftigen Pinselstriche eher Pinselhieben. Die voluminösen Körper ihrer Akteure schienen ohne schützende Haut dem Feuer der Leidenschaften und Ängste ausgesetzt. Im Mittelpunkt fast aller ihrer Bilder stand immer die menschliche Figur oder das Tier. Nur langsam flaute das Pinselgewitter ab und ruhigere Flächen tauchten zwischen den Zonen expressiver Gestik auf. Bereits 1983 machte Simonyi erste Versuche mit Malerei auf Pappe. Damals entfaltete sie die Kartons und malte ihre Figuren auf die so entstandene Fläche. Einmal drapierte sie einen ihrer Kunstmenschen über einer Regentonne, so dass das Becken nach vorne kippte und die Beine kraftlos  herabbaumelten. Schon immer, sagt sie, hätte sie Lust gehabt, mit ihrer Malerei in den Raum hinein zu gehen. Aber bis sie diesen Schritt wirklich wagen würde, sollten noch Jahre vergehen. Wie oft im schöpferischen Prozess, war auch hier ein Anstoß von außen nötig, um die Entwicklung zu forcieren. Der letzte Impuls für die freundlichen Riesen aus Pappkartons kam durch eine Einladung in die Kunsthalle Szombathely in Ungarn 1998, die wegen ihrer Dimension und der den Raum unterteilenden Stützen zur Herausforderung an die Künstlerin wurde. Wie, so fragte sie sich, kann man in einer so weitläufigen Halle Malerei zur Wirkung bringen? Nur Bilder an die Wände zu hängen, schien ihr zu wenig, zumal doch schon eine ganze zeitlang eine neue räumliche Dimension der Malerei in ihrem Kopf herumspukte.

Die Suche nach dem Raum in der zweidimensionalen Kunst der Malerei ist fast so alt wie diese selbst. Jahrhundertlang bemühten sich die Künstler um eine adäquate Darstellung des Raumes in der Malerei. Mit Hilfe von Zentral- oder Farbperspektive oder durch einfache Staffelung und Überschneidung von Linien und Flächen wird im zweidimensionalen Bild die Illusion von Räumlichkeit erzeugt. Auf die Spitze ist das sozusagen im trompe l´oeil, der Augentäuschung, getrieben. Hier haben die Maler einen Gegenstand durch naturalistische Genauigkeit mit Hilfe von Schattenschlägen oder perspektivischen Mitteln körperlich so real erscheinen lassen, dass der Betrachter meinte, diesen greifen zu können. Aber das alles war für die Kunst von Emö Simonyi nicht von Interesse. Sie wollte die räumliche Dimension ihrer Bilder mit eigenen Händen be-greifen. Malerei bedeutet für sie weniger Darstellen als vielmehr in Besitz nehmen. Deshalb, sagt sie, liebt sie Francis Bacon so sehr, weil er um die Körper in seinen Bildern herum gemalt hat. Er hat seine Figuren oft auf einer Art Scheibe wie auf einer Drehbühne präsentiert und damit, ohne auf die Gesetze der Zentralperspektive zu achten, eine räumliche Illusion geschaffen, die den Körpern Plastizität verleiht. Entsprechend seinem großen Vorbild Pablo Picasso wählte er bei seinen Portraits die Vielansichtigkeit. Häufig malte er diese in Dreierserien: en face und von beiden Seiten im Profil, ganz wie in der Verbrecherkartei der Kriminalpolizei. Allerdings ist er mit seiner Malerei nie wirklich in den Raum gegangen. Es war auch nicht die Plastizität, die ihn interessierte, sondern die Mehrdimensionalität in der Fläche. Er malte seine Köpfe als wären sie filmische Mehrfachbelichtungen. Andere Maler, die sich der Bildhauerei zuwandten, hielten normalerweise die beiden Sparten streng getrennt. Sie arbeiteten entweder wie Matisse und Baselitz mit klassischen Bildhauermaterialien oder mit Fundstücken wie Picasso und Miró. Auch Emö Simonyi nutzt für ihre Skulpturen aus Pappe Abfall, also gebrauchte Kartons, aber sie geht damit anders um. Wenn Picasso beispielsweise eine Gitarre aus Metall und Draht fertigte, brachte er sein Material nur in die gewünschte Form. Die Wirkung entstand dann aus der Diskrepanz von Material und Inhalt. Nicht anders verhält es sich mit den Schwammplastiken von Yves Klein oder Jean Dubuffet. Das Material ist in all diesen Fällen nicht Bildträger, sondern wird selbst zum Bild. Gerade darin liegt auch der Unterschied zu Andy Warhol, der mit seinen Brillo-Kartons die wohl teuersten und edelsten Kartonagen der Kunstgeschichte geschaffen hat. Emö Simonyi verwendet zwar auch Kartons, aber nicht als ready-made. Sie nutzt sie als Bausteine für Skulpturen, die ihre eigentliche Aussage erst durch die Bemalung bekommen.
Kartons so übereinandergetürmt, wie bei Simonyi, erinnern schon von sich aus an menschliche Körper, das aber genügt der Künstlerin nicht. Das wäre nur eine Simplifizierung kubistischer Plastik, wie wir sie beispielsweise von Henri Laurens oder Jacques Lipschitz kennen. Eventuelle Bemalungen dienten diesen Künstlern zur Steigerung der plastischen Wirkung. Emö Simonys Arbeitsweise ist anders: Mit der Malerei will sie nicht die plastische Qualität der Kartons unterstreichen, sondern die einzelnen Teile miteinander verbinden, um den Skulpturen so eine Persönlichkeit zu geben. Sie behandelt die einzelnen Kartonseiten als Bildgrund und damit als Fläche. Das ist besonders gut an den Stellen zu sehen, die von Farbe frei bleiben, wie beispielsweise zwischen Beinen oder auf den Rückseiten. Man muss schon die ganze Figur umrunden, um in der Summe der einzelnen Flächen einen Körper, eine Person, zu sehen. Das ist zwar bei jeder Rundplastik notwendig, wenn man sie vollständig begreifen will, aber ihr Gesamtvolumen ist oft schon von einem Punkt aus wahrzunehmen. Nun wirken zwar die Skulpturen von Emö Simonyi auch dann vollplastisch, wenn sie nur von einer Seite aus betrachtet werden, vor allem aus der Ferne, aber ihre Persönlichkeit ergibt sich erst nach und nach. Beim Betrachten folgen wir also der Künstlerin, die tatsächlich um die Körperteile und damit die einzelnen Kartons herummalt.

Die Malweise ist anders als in den Bildern: ruhiger, großflächiger; die Pinselstriche sind breit, die Farben vielfach gemischt und abgetönt. Die Gesichter wirken wie gemeißelt und erinnern an afrikanische Plastik. Und tatsächlich waren es auch Asylanten aus Afrika, die Emö Simonyi bei einem ihrer zahlreichen Lehraufträge portraitierte. In den Kartonskulpturen finden sie sich jetzt wieder und geben ihnen einen etwas archaischen Charakter, der sich einerseits mit dem primitiven Material und andererseits mit der roboterähnlichen Eckigkeit der Gliedmaßen bricht. Da die Skulpturen leicht zu befördern sind und in ihrem lockeren Verbund trotz ihres klobigen Äußeren beweglich erscheinen, eignen sie sich gut für Gruppenbildungen. In der Ausstellung treten sie manchmal in Kontakt zueinander und auch das reizt wiederum sich näher mit ihnen zu befassen. Trotz ähnlicher Figurendisposition sind sie sehr unterschiedlich gestaltet. Sie sind nicht im landläufigen Sinn schön, sondern wie alle Protagonisten von Simonyi in expressiver Übertreibung dargestellt. Emö liebt das Makabre; auch Witz und Ironie haben in ihrer Kunst ihren Platz. Nicht umsonst ist einer ihrer liebsten Theoretiker Carl Einstein, der bissige und auch zynische Kritiker und Poet der 20er Jahre. "Darum meine Damen", hat er einmal gesagt, "werden so viele verrückt. Wir entbehren der Fiktionen, der Positivismus ruiniert." Schon früh hat er vom "zerstückelten Körper" gesprochen, von dem sich Teile aus dem eigentlichen Zusammenhang gelöst haben. Um den Körper nach ästhetischen Grundsätzen zu formen, muss zunächst der naturalistische Leib negiert werden. "Also gehen sie nicht mehr auf zwei Beinen" wird Einsteins Protagonist Bebuquin aufgefordert.

Simonyis Figuren leben mit Stummelarmen und Stummelbeinen, haben riesige Becken und tief hängende Riesenbrüste. Die Gestaltung der Körper unterliegt einer Ästhetik, die sich nicht an der Natur messen lässt. Wie in der Urzeit werden bestimmte Körperpartien herausgehoben, um die Bedeutung ihrer Funktion zu unterstreichen: Sekundäre Geschlechtsmerkmale werden überdimensional vergrößert. Bäuche geöffnet, damit die Organe sichtbar werden; weit aufgerissene Münder machen aus stummen sprechende Wesen; ein ausgestreckter Arm nimmt Kontakt zum Nachbarn auf während auf der Brust verschränkte Arme mehr den Rückzug ins eigene Innerer andeuten. Aber nichts ist hier bis ins letzte Detail festgelegt. So massiv die körperliche Präsenz der freundlichen Riesen von Emö Simonyi auch erscheint, so zerbrechlich ist sie. Letztendlich sind es bemalte Kartons und alles Weitere geschieht im Kopf des Betrachters. Um die Realität zu vollenden, brauchen wir die Fiktion.

       Hanne Weskott

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