Katalogtext zu Emö Simonyi, Zeichnungen 1986-1990, Galerie Reile, 1991

Vom Ge Triebe des Erzählens

Die Zeichnungen von Emö Simonyi sind 'bewegt'. Daß sie Situationen festhalten, in denen etwas passiert, ist eines ihrer wesentlichen Charakteristika. Die Zeichnungen erregen und wühlen auf, so sehr, daß es manchem Betrachter schon zu viel wird und er sich abwendet. Man kann die Zeichnungen der letzten Jahre wild nennen, aber ihre Wildheit hat nichts mit dem zu tun, was als 'wilde Malerei' apostrophiert wurde. Obwohl die Impulsivität, mit der künstlerisch gearbeitet wurde, durchaus vergleichbar ist.

Emö Simonyi ist eine Einzelgängerin. Und das, obwohl sie mit all ihren künstlerischen Wurzeln in der europäischen Kunst und Kultur verankert ist. Gar manchem werden ihre Figurationen erschreckend vorkommen, aber sie sind uns allen dennoch vertraut - vorausgesetzt, wir bewegen uns auf einer gemeinsamen Bildungsebene. Das kulturelle Wissen, das wir Bildung nennen, paralysiert die Schrecken, die uns aus den Zeichnungen anspringen, es liefert die Schubladen, in die wir verstauen können, was wir nicht auf Anhieb verdauen können.

Die Zeichnungen von Emö Simonyi sind geradezu exzessiv narrativ, aber sie erzählen dennoch keine Geschichte. Man kann Zustände an ihnen ablesen und auch Bruchstücke von Geschichten erkennen, aber sie brauchen ein weiteres Umfeld, um sich entfalten zu können. Dazu sind nicht neuerliche Zeichnungsblätter notwendig. Das Umfeld kann ganz einfach in der Assoziations-bereitschaft des Betrachters liegen. Wer die Geschichte weiterspinnt, hat Teil an ihr, erfüllt sie mit Leben und ist damit Teil ihres Lebens. Gleichermaßen ist auch die Geschichte Teil seines, also unseres (Alltags)Lebens. Und an dieser Stelle wird die kulturelle Verankerung bedeutsam: sie weist den Gestalten und Geschichten Plätze zu, die nahe genug an unserem Weg liegen, so daß wir sie sehen, aber weit genug entfernt sind, um uns nicht von ihnen aus der Bahn werfen zu lassen. Was Emö Simonyi auf ihren Zeichnungen festhält, gehört zur Nachtseite unseres Lebens. Es können die Bilder unserer Triebe sein, mit denen wir hier konfrontiert werden. Es sind dabei nicht selten die unbedachten Formulierungen, die uns vor Augen geführt werden. Hier haben wir etwa, was und wer uns 'ankotzt'. In gewisser Weise zeigt uns die Künstlerin die Ansicht des Lebens von innen. In den Bildern kristallisiert sich, was man empfinden möchte gleichermaßen wird dadurch deutlich, daß man gerade das meist nicht empfinden kann.

Es ist nicht obszön, was sich in den Zeichnungen von Emö Simonyi bildhaft verdichtet, aber es hat die Qualität obszöner Gedanken. Ein wesentlicher Aspekt des Obszönen ist der Ausbruch aus dem Genormten, dem Verbindlichen, dem Vorgeschriebenen. Die Qualität dieser Sprengkraft steckt in den Zeichnungen.

Impulsive Negative

Die Zeichnungen von Emö Simonyi treten offen vor den Betrachter, sie verleugnen nicht, daß sie spontan und impulsiv entstanden sind, wenig abgeklärt in der motivischen Formulierung. Die Künstlerin greift zu allen verfügbaren Materialien, wenn es darum geht, ein im Kopf entstandenes Bild festzuhalten. Wenn kein Pinsel, keine Feder zur Hand ist, um die Tusche aufs Papier zu bringen, dann nimmt sie einen dünneren Ast oder ein gerolltes Stück Papier. Solche ungewöhnlichen Federn benutzt sie auch, um einen Widerstand in den Gestaltungsprozess einzubauen. Das Durchgestalten von Ideen und Motiven geschieht durch wiederholtes Formulieren. Und da Emö Simonyi eine perfekte Technikerin ist, wird leicht mal eine Form zu glatt und verliert ihre Wandlungsfähigkeit. Ein 'grober' Pinsel bringt dann wieder die Brüchigkeit und Lebendigkeit ins Bild.

Die Figuren in den Zeichnungen werden von Emö Simonyi umrissen, sie werden eingeschlossen von einer Linie. Selten nur wird diese zeichnerische Charakterisierung zugunsten einer dem Malerischen zuneigenden flächigen Figurendefinition aufgegeben. Gleichwohl wird die Fläche zu einem aussagestarken Bildelement. Einzelfiguren und Figurengruppen sind eingebettet in angedeutete Landschaften oder Räume. Der Bildhintergrund scheint aber in allen Fällen nur die Isolation der Figur(en) zu unterstreichen. Und da geschieht es nicht selten, daß der Hintergrund fast flächig schwarz wird und die weißen Figuren als ein nicht ganz 'sauberes' Negativ darinnen oder darüber stehen. Emö Simonyi unterstreicht damit das dialektische Spiel von der Zweidimensionalität des Materials und der Dreidimensionalität der Imagination. Die Figuren und Szenen sollen keine greifbare Realität gewinnen, sie sollen sich immer wieder zurückziehen können ins Dunkel.

Mut und Mythos

Emö Simonyi hat viele Vor-Bilder. Bilderwachsen ihr aus Bildern. Und so ist es unerheblich, ob die An regung von eigenen oder fremden Bildformulierungen kam. Innovation ist der Künstlerin weniger wichtig, als die Lebendigkeit der Bilder. In der Lebendigkeit liegt dann allerdings der Schlüssel zur Innovation, denn die Vor-Bilder kommen nicht ungeschoren davon. Emö Simonyi tippt nur an, sie 'zitiert' nicht; sie wandelt um und interpretiert. Ihre "Evangelisten" erinnern an die Wasserspeier gotischer Kirchen, die mit ihrem Chimären-Charakter die christliche mit der griechisch-heidnischen Welt verbanden. Die "Evangelisten" sind abgehoben, kotzen auf die Welt herab. Sie sind weniger Sprachrohr, sondern vielmehr Speirohr. Ihr angestammtes 'Bild' bekommt damit eine zusätzliche Ebene. Es ist nicht gesagt, daß diese Ebene neu ist, vielleicht war sie bislang nur weitgehend verdeckt.

Emö Simonyi siedelt die uns vertrauten Bilder an fremden Orten an. Ihre "Grünen Drachen" könnten der Inszenierungsskizze einer 'Krieg der Sterne' Verfilmung entnommen sein. Die mit ihnen verwandten geflügelten Teufel (der Gruppe 4) sind ein Fingerzeig auf die nahe Verwandtschaft zwischen Batman und den apokalyptischen Vorstellungen des Renaissancemalers Luca Signorelli (im Dom von Orvieto). Manche fratzenhafte Figur erinnert deutlich an mittelalterliche Malerei und Skulptur. Gier und Entsetzen sind bei ihr siamesische Zwillinge. Schlingen und Erbrechen sind dafür die zeichenhaften Bilder. Und da erweist sich dann, daß jede Nuance einer Formulierung eine Stufe auf dem Weg hinab zu den Urbildern ist. Da schlingen Menschen und vogelköpfige Wesen die Leiber von anderen in sich hinein, nicht kannibalisch, sondern eher wie die sich selbst gebärende und verzehrende Schlange Uroboros. Da wird einem das Maul mit der Brust gestopft und zugleich brüstet man sich oder nimmt den anderen zur Brust. Deutlich, aber nicht eindeutig ist, was Emö Simonyi den Figuren in ihren Zeichnungen widerfahren läßt.

Die herausgestreckte Zunge - formal und im Ausdruck gar nicht so anders als die entgegengestreckte Brust - ist traditionelles Zeichen der Abwehr des Bösen ebenso wie christlich stigmatisiertes Bild 'zügelloser', weil züngelnder Lust und Verführung. Der "Heilige Georg" ist in diesem Umkreis kein stolzer und erhobener Held, dem das Böse sich zu Füßen windet, sondern jemand, der Körper mit Körper bekämpft. Wieviel körperliche Lust dabei entsteht oder bekämpft werden muß, entscheidet der Blick des Betrachters. Er interpretiert im Wechselspiel von hell und dunkel die Kräfte von Anziehung und Abstoßung. Systolae und diastolae, Einatmen und Ausatmen, hat Goethe als das Grundelement des Lebens bezeichnet. Mit dem 'Klassiker' teilt Emö Simonyi das Vertrauen in die Ewigkeit des Wechsels, aber als Zeitgenossin des Jahrhunderts von Gentechnologie und Atomkraft zieht sie die fratzenhaft-phantastische Seite eher ins Kalkül. "Gott ist der Tod" titelt sie in ihren Zeichnungen zu Carl Einsteins Roman "Bebuquin", aber beim Autor selbst findet man auch die Erklärung: "Tod, du bist der Vater der Zeugung".

Die Welt dreht sich nur, sie wird nicht neu erschaffen.

Heinz Thiel
 
 
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