Vom Sehen und Reisen
Wie wir den Bildern von Emö Simonyi begegnen können


Bilder legen fest, wie sie gesehen werden wollen.
Bilder sind Wahrnehmungsapparaturen. Bei zentralperspektivisch konstruierten Gemälden ist dies leicht zu erläutern, denn dem im Bild festgelegten Fluchtpunkt muss in Standpunkt und in Aughöhe der Betrachter entsprechen. Nur in dieser wechselseitigen Ausrichtung ist das Bild richtig aufzufassen.

Die Bilder von Emö Simonyi erfordern eine Ausrichtung in besonderer Weise, aber nicht als eine physische Disposition, sondern als eine innere Haltung des Betrachters in der Begegnung mit den Bildern.


Coltello II, 1989

Exkurs Stehen wir einem Totendenkmal aus der griechischen Archaik gegenüber, z.B. dem Münchner Kouros von ca. 540 v.Chr., fühlen wir uns einer Haltung verpflichtet, die ein äußerliches Maß der Bewertung - entsprechend einer normativen Ästhetik - enthält, die ein mitfühlendes Verstehen schwer fallen lässt, wenn wir im Epigramm aufgefordert sind zu trauern: "... die wir das Denkmal des toten Kleotitas, des Sohn des Menesaichmos schauen, klaget, wie schön er war, da er starb ...". Die Trauer ist als Verpflichtung aufgefasst, die aus einem kollektiven Anstand erwächst.

Die Figuren in den Malereien von Emö Simonyi erleiden auch den Schmerz des Todes, aber die Beklagten sind wir, weil es unser Schmerz ist. Wir sind nicht die Zuschauer eines sportlichen Spektakels, wie bei den Sumokämpfen, auf der Wippe oder in Betrachtung der Feuerschlucker. Wir sind Akteure im Gefolge des Dionysos, der sich jeden Tag neue Überraschungen ausdenkt, was denn noch zu tun sei um das Leben in seiner explizitesten Form, die Erfahrung des Todes eingeschlossen, zu erleben.
Deswegen sind die Aktionen so verwegen, deswegen sind die Spiele auf des Messers Schneide inszeniert und deswegen gibt es auch keine Betrachtung und kein äußeres Maß der Bewertung, denn sie würden eine Distanz verlangen, ein Zurücktreten, ein Abwägen und ein Beurteilen. Wir sind darin
eingefaltet in das barocke Spiel der Farben.


Manhattan, 1987

Das ist eine Welt, die kein Außen kennt und wie Jean Paul Sartre in " das Sein und das Nichts" schreibt " ... ich sehe nur von einem Punkt aus und bin in meiner Existenz von überall her erblickt". Das ist eine suggestive und rahmenlose Welt. Wir sind enthalten, wäre nur noch ein Stück weitergemalt. Wir sind enthalten, würde die malerische Kamera nur einen kurzen Schwenk machen. Stattdessen ist der Pinsel der Betrachtung weitergerissen von Bild zu Bild zu einem anderen dionysischen Spektakel, das uns atemlos zurücklässt.

Würde man der griechischen Figur weiter chronologisch folgen und nach der archaischen einer klassischen Figur begegnen, wäre in der Begegnung keine höfliche Geste nötig, denn wir kennen uns, wir sind Zeit- und Leidensgenossen, die unter sich über sich klagen können, das alltägliche Jammern über Beschwerden eines ermüdenden Alltags zwischen acht und sechzehn Uhr, nicht bemerkenswert und nicht spektakulär und es bliebe weiterhin auch keine Zeit sich im silbernen Licht der platonischen Zeit aufzuhalten, die den Dialog zwischen der Ideenwelt und der Erscheinungswelt beginnt und sich selbstvergessen philosophischen Sinnfragen widmet. Wir müssten weiter, wollten wir die Figuren und Geschichten in den Arbeiten von Emö Simonyi kennen lernen, zu den Gestalten der hellenistischen Zeit im Gefolge des Dionysos.
Doch bevor wir uns in ikonografischen Bezügen und in ikonologischer Trübe verlieren, schauen wir zunächst auf das, was wir sehen.


Verdammung, 1988


Vom Schweben und Schwindel Die Figuren, in den zeichnerischen und malerischen Arbeiten von Emö Simonyi sind im Spiel auf Leben und Tod verdreht, zusammen geknäult, ineinander verhakt, jenseits physikalischer Gegebenheiten in einen schwebenden Zustand versetzt, ausbalanciert, aus sich heraus gewachsen oder in sich selbst gestülpt.

Die physischen Möglichkeiten des menschlichen Körpers im Raum sind als eine unendlich offene Reihe gemalt, was ein besonderes und forschendes Interesse der Künstlerin zeigt. Das Interesse für einen evolutionstheoretischen Gegenentwurf. Ein Modell. Als Erwin Panofsky in den 30er Jahren des 20. Jhdts das Schweben von Figuren, die Suspension, in den Werken von Rogier van der Weyden und Grünewald als kritische Form heranzog, um seine methodischen Überlegungen zu Ikonografie und Ikonologie zu erläutern, tat er dies an schwebenden Körpern, um daran den Unterschied vom Stehen in der Luft zur Schwebeerscheinung auszuführen.
"Schwebefiguren sind im Bildraum schwer zu bestimmen, ihre Position ist relativ, nicht vergleichsweise fixierbar. Einzig unter perspektivischen Darstellungsgesetzen lässt das Größenverhältnis einen Annäherungswert über Entfernung im Tiefenraum und vertikale Höhe zu. Schwebendes sperrt sich gegen reale Genauigkeit, das Visionäre kennt einen Raum von religiöser Alldimension, wo Nähe und Ferne sich relativieren. Dies ist dem praktischen, haptischen Denken verdächtig, das sich auf den durch Tastsinn ursprünglich erfahrenen Raumeindruck verlässt." Körper in der Schwebe finden wir in vielen Bildern von Emö Simonyi. Das ist nur eine mögliche Form, aber die scheint, wenn man Panofsky Glauben schenkt, besonders wichtig, wenn man die Verschiebung des Interesses von der Form zur Bedeutung darstellen will. In Grünewalds "Die Auferstehung Christi", (s. Jeannot Simmen in "Vertico. Schwindel der modernen Kunst") kann man die Christusfigur im Bild höher stehen sehen, aber man muss sie nicht als räumlich darüber empfinden. Es wäre ein räumliches Netz nach perspektivischen Gesetzen geordnet hilfreich, das die Position der Figur bemisst, aber besser wäre ein fassungloses Staunen wie es von den ersten Betrachtern des Tintoretto - Gemäldes "Wunder des heiligen Marcus" von 1548 berichtet wird, das den Evangelisten wie Batman, in guter Mission kraftvoll und von oben ins Bild einfliegend, zeigt.

"Das kleine jüngste Gericht" von Rubens von 1620 könnte auffordern zu zählen, zu unterscheiden die Stürzenden von den Fallenden und die Aufsteigenden von den Schwebenden. Es könnte auffordern, eine aviatorische Typenlehre zu entwickeln oder eine Sammlung von körperlichen Verhaltensformen in der Luft anzulegen; aber all dies spricht nicht von Schuld und von Sühne.

Hans Sedlmayr schreibt von Empfindungen der körperlichen Schwere als Grunderlebnis und vom Sturz, der den Körper erst zu einem Körper macht, krampfhaft bewegt und nicht mehr vom Willen, sondern von der Angst bewegt. Das beantwortet besser die Frage nach den Kräften, die die Körper und die Figuren in den Bildern von Emö Simonyi bewegen, die nicht physischer Natur sind, sondern psychische Kräfte aus der Seele des Bewegten selbst heraus.

Zum Beispiel in "up and down" von 1988 schweben die Figuren am Umkehrpunkt der Möglichkeiten. Die grundlose Wippe gibt kein Maß für ein rhythmisches Auf und Ab. Wir wissen wenig, welches Gewicht, beziehungsweise welches Recht der Einzelne vorträgt und welche Justiz mit welchem Recht entscheidet. Das Schweben zwischen Leben und Tod ist unerträglich unentschieden und nur die letzte Entscheidung am jüngsten Tag birgt Hoffnung. Das Oben und Unten wird laufend ausgetauscht, als ob sich in dem unscharfen und zwischenräumlichen Zustand etwas Drittes darstellen ließe, als ob der dargestellte Moment als Indiz herangezogen werden könnte, um die Äquivalenz von Bild und Realität zu leugnen und den Blick auf die Bilder jenseits des Bildes zu lenken. Dahinter steckt die Erfahrung einer Erzählerin, wo das eigene Ich nicht einer Persönlichkeit zugehört, die unverändert den Erfahrungen, denen sie ausgesetzt ist, standzuhalten vermag, sondern in der das Ich vom Fluss der Zeit verändert, zersetzt und aufgelöst erscheint. Schweben ist etwas Anderes als Fliegen. Schweben ist ein medialer Zustand. Dem Schwebenden geschieht etwas. Das Bild, das nicht in seinen eigenen Ränder eingeschlossen ist, könnten außer auf sich selbst auf alles Mögliche verweisen.

Eine Reiseerzählung

Schweißnass vom Methangas orakelt die Pythia von Schimären, die Feuerschweife furzend, durch einen phantastischen Luftraum rudern.
Demagogische Riesen entsorgen die liebenden Affen, weil sie nicht mehr passen in die Utopie der biomorphen Strukturen. Der Faun ist dabei den Hahn in sich zu töten und die Maskenmenschen stecken die Köpfe in die Wolken. Die Schere zerschneidet sich selbst. Während die Sumokämpfer dem Ende entgegenstürzen, bleibt der Schiedsrichter unentschieden auf einem Bein. Der glücklose Peter Stuyvesant gründet zum siebten Mal New York, während Europa auf dem Stier an der turmlosen Skyline Manhattans vorbei reitet. Ariadne und Sonia Delaunay spinnen einen bunten Gesprächsfaden. Der singende Hund beklagt das untergegangene Pompei und wir die Misstöne der Hymne, die Henry Purcell mit Óriás komponiert. Die Evangelisten kotzen auf eine üble Welt, in der die Hypothesen Kommission über Bacchus Recht spricht.
Vogelmenschen, die sich selbst vögeln und mit dem Hahn um die Wette krähen, leben in idyllischer Wüstenlandschaft. In Botafago ist das up and down-Spiel entschieden. Der grüne


Evangelisten I, 1991

Drache wechselt die Farbe von Balena blu nach Testa rossa. Bomarzo vermutet hinter sich die Zukunft und die Mammuts tragen Totenmasken.
Sie werden den Geschichten nicht glauben können ... aber Sie werden, wenn sie nicht an das Ende jeder Erzählung glauben wollen und obwohl Sie auf andere Sinnesmodalitäten verzichten müssen, die das Unglaubliche, das Sie sehen, in einem intermodalen Konsistenztest bestätigen könnten, letztendlich überzeugt sein von der suggestiven Wahrheit der Bilder, weil es keine andere Wahrheit als die Wirklichkeit der Farben gibt.
Und wie schon würden sich die gehäuteten Äquilibristen anfühlen ?

Sie werden sich erinnern müssen an die eigenen Begegnungen mit Kassandren oder Titanen oder besser an die Erzählungen der Geschichten von Geschichtslehrern, die behaupteten, dass Ariadne den Faden hinter sich herspult in der


Stier und Adler, 1989

Hoffnung der Faden könnte sie erinnern an den Rückweg und an die Erzählungen von Prometheus, einem Titan der griechischen Mythologie, der die Menschen mit dem Feuer beglückte, aber je weiter sie sich entfernen von den fernen Erinnerungsbildern und je deutlicher die Gegenwart Ariadne dem Minotaurus opfert und das Kriegsfeuer allerorten dem Menschen auch kein Glück verheißt, desto mehr bleiben Sie in der gemalten Gegenwart der farblichen Ereignisse der Bilder gefangen. Und wenn die Reise kein Zurück findet merken Sie, dass die in den Bildern aufgesuchten Orte: Sodomie, Penetrationslust, Wut, Selbstbefriedigung, Schwindel, Kannibalismus, Vatermord oder sonst wie heißen und sie spüren dass wir nicht jemandem sondern uns selbst begegnen. Eine empfindsame Reise zu inneren Zuständen.
Laurence Sterne ist der erste Reiseführer, der in seinem zweiten Roman "Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien" von 1786 eine Landkarte der inneren Orte zeichnet. Und obwohl die Orte Versailles, Calais oder Paris heißen und die Personen, Monsieur le Comte de B., Duc de C., Graf von B. oder Madame M. historisch verbürgt sein sollen, legt das Fragmentarische und Offene der Erzählform und die detaillierten Beschreibungen der Seelenzustände nahe, dass er zwar wirklich durch Frankreich gereist ist, dass aber die eigentliche Reise durch seinen eigenen Geist führt und die größten Abenteuer er nicht mit bezaubernden Damen oder Straßenräubern erlebt, sondern mit "... den Regungen des eigenen Herzens".


Gott ist der Tod, 1986

Und wenn niemand mehr von Emö Simonyi eine Bilderreise zu Vertrautem oder Gelerntem erwarten kann - das überlässt sie den "Stinkpilzen", die das Faktische und Analytische für das Wesentliche halten - dann ist alles offen in einer phantastischen Geisterreise, die keine Kontinuität von Raum und Zeit und keine Naturgesetze kennt. Wir reisen mit ihr durch die weiten Landschaften der griechischen Mythologie, rückwärts entlang den Türmen gotischer Kathedralen. Wir begegnen dem hl. Georg, wie er mit dem Drachen einen Dialog führt und wissen dabei, wie gerne wir Gesten und Worte als Distanzwaffen und tödliche Lanzen verwenden würden.


Der heilige Georg, 1986


In vergessenem Nebel bleiben die unsichtbaren Städte der eigenen Hoffnungen zurück und die Ängste zeichnen in klaren Konturen das Unvorstellbare. Die Zukunft ist belebt von den Totenschädeln der Vorgeschichte, und während wir den fernen Ruf der Kassandra hören, wissen wir, dass wir uns nicht auf uns selbst verlassen können. Wir müssen vertrauen auf die suggestive Kraft der Bilder, von denen die Sphinx rätselt und die uns die Pythia in traumhafter Nacht in die Ohren phantasiert.

Siegfried H. Bucher

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